Felix, der Glückliche

Manche Mendelssohn-Biographen konnten der Verlockung nicht widerstehen, über „nomen“ und „omen“ nachzudenken, also darüber, ob „Felix“, der Glückliche, nicht zu glücklich war, um einer der ganz Großen zu werden – was die Annahme voraussetzt, dass das Schöpfer-Genie erst durch Leid, Elend, Verdruss, Armut, Misserfolg, Kampf gegen Unglück und vielleicht proletarische Herkunft erst in den Stand versetzt wird, Unvergängliches zustande zu bringen, dass es erst „dem Schicksal in den Rachen greifen“ muss, um sich in die Kunstgeschichte und das Weltgedächtnis einzugravieren.

Es ist wahr – Mendelssohn ist in ungefährdetem Wohlstand aufgewachsen, der die sorgfältigste Erziehung ermöglichte: die besten Lehrmeister, Bildungsreisen, das angemietete Orchester für die Sonntagsmusik, dazu ständige prominente Hausgäste zwischen Hegel, Heine und Humboldt. Sorgfältige – das war strenge Erziehung, hieß um fünf Uhr allmorgendliches Aufstehen, Geschichte, Griechisch, Latein büffeln, Naturwissenschaften, zeitgenössische Literatur, Zeichnen, Malen – und natürlich Musik.

So ambitionierte pädagogische Exerzitien brauchen, um Früchte zu tragen, einen Adressaten, der mit derlei hochkarätigen Bildungsimpulsen etwas anzufangen weiß – und da steht man auch heute noch fassungslos vor den Möglichkeiten, Fähigkeiten und Begabungen des jungen Felix. Auf der naturgegebenen Basis eines perfekten Gehörs und wahrscheinlich fotografischen Gedächtnisses, blitzschneller Reaktions- und Kombinationsgaben wurde er – nach entsprechenden Wunderkind-Anfängen – der erfolgreichste Komponist seiner Zeit, einer der besten Pianisten, eindrucksvollsten Dirigenten (berühmt und ein wenig gefürchtet übrigens wegen seiner schnellen Tempi), wahrscheinlich der bedeutendste Organist, wäre vermutlich, wenn er gewollt hätte, einer der größten Geiger geworden und – wenn er Zeit gehabt hätte – ein erfolgreicher Maler. Und wer seine Briefe liest, wird seine literarische Begabung samt der Fähigkeit zur Ironie nicht wesentlich unter der Heinrich Heines ansiedeln. Nicht genug damit: er turnte, schwamm, war ein guter Reiter, ein hinreißender Tänzer – wie „ein gebildeter Sturmwind“ habe er getanzt, meinte Rahel Varnhagen -, und wer es mal auf die Spitze des Faulhorn im Berner Oberland geschafft hat, wird auch höchsten Respekt vor dem Bergsteiger Mendelssohn haben.

In seinen Reisen in Italien, Frankreich oder England bediente er sich mit Leichtigkeit der jeweiligen Landessprache. Und dann sah er noch sehr gut aus, kleidete sich mit Geschmack, hatte ausgezeichnete Manieren, war kommunikationsfreudig, fand sofort und überall Freunde. Goethe, der seinen Umgang sorgsam auswählte, mit Sympathie und Lob immer sparsamer umging, war regelrecht vernarrt in den zauberhaften Zwölfjährigen, den sein Berliner Duzfreund Zelter ihm nach Weimar gebracht hatte. Täglich wurden Freundschaftsküsse ausgetauscht zwischen dem Olympier und dem ebenso munteren wie unerklärlich begabten Jungen. „Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe“ sagte Goethe zu Felix’ Mutter Lea, „schicken Sie ihn mir recht bald wieder, dass ich mich an ihm erquicke.“

Kein Wort des Staunens – und vielleicht nicht einmal der Vergleich mit Mozart – reicht an die Jugendgenialität des Komponisten Mendelssohn heran, der mit 16 das Streichoktett, mit 17 die Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ schrieb – Musik, die so lange gespielt werden wird, wie die Menschheit sich mit den Gattungen Kammermusik und Sinfonik abgeben wird.

Mendelssohn wurde der bewunderte Favorit des allmählich erwachenden Bürgertums, das gerne im „massenhaften“ Solidaritätserlebnis von Musikfesten auch ein wenig Demokratenluft schnupperte; aber er wurde auch – Aristokrat im Auftreten und in seiner Musik – von Aristokraten umworben, von den Königshäusern Preußen, Sachsen und England. Rührend und vielgeschildert die Szene im Buckingham Palace, als Mendelssohn mit Queen Victoria und ihrem deutschen Prinzgemahl Albert in familiärer Runde zusammentraf, man miteinander musizierte und sang, wobei sich herausstellte, dass die königlichen Hoheiten die Chöre aus Mendelssohns Oratorium „Paulus“ ebenso kannten wie seine Lieder.

Friedrich Nietzsche hat Mendelssohn in einem berühmten Wort den „schönen Zwischenfall der deutschen Musik“ genannt – das war ziemlich freundlich gemeint, trifft aber, wie alle Aphorismen, nur einen Teil. Zwischenfälle sind unvorhersehbar und folgenlos. Unvorhersehbar war Mendelssohn nur in dem Sinne, dass das Auftreten von Genies nicht planbar ist. Zu seiner Mission gehörte aber, alle Traditionen deutscher Musik zusammenzufassen, so dass Robert Schumann feststellen konnte, Mendelssohn habe „die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt“. Und folgenlos? Abgesehen von seinen Kompositionen und gar der Erfindung musikalischer Gattungen: Mendelssohn hat mit seiner Arbeit als Leipziger Gewandhaus- und Konservatoriumsdirektor die Strukturen unseres heutigen Musiklebens programmiert, er hat – nicht nur durch die Wiederaufführung der Matthäuspassion – dafür gesorgt, dass sich so etwas wie ein musikgeschichtliches Bewusstsein bildete. Angesichts der 38 Jahre, die er nur zur Verfügung hatte, mutet sein Lebens-Arbeits-Pensum unglaublich an. Immer liegt einem die Frage auf den Lippen: „Wann hat er das nur alles gemacht?“ Hunderte von Kompositionen, an die 7000 Briefe, ein Tourneeplan, der sich mit denen heutiger Jet-Set-Musiker messen kann, Unterrichten – und Vater von fünf Kindern war er auch noch!

Was an Bewunderungsworten für eine solche Ausnahmeerscheinung nur aufzutreiben war, findet sich bereits in Robert Schumanns „Erinnerungen an Felix Mendelssohn“ – sie gipfeln darin, dass er ihn „einen wahren Gott“ nennt.

Dass dieses Denkmal eines Göttergleichen vom Sockel gestürzt wurde – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn 1936 in Leipzig – gehört auf das Schuldenkonto und zu den Traumata der deutschen Geschichte und Nation. Der „Fall“ Mendelssohn ist keine schlichte Musiker-Biographie.

Die hat eigentlich im Jahre 1743 zu beginnen, als ein kleiner, missgebildeter, des Deutschen kaum mächtiger, etwa 14jähriger Jude von feixenden Uniformierten durchs Rosenthaler Tor nach Berlin eingelassen wird – nur hier durften Juden die preußische Hauptstadt betreten. Der Junge hieß Mosche Ben Mendel – Moses, Sohn des Mendel – aus Dessau, und er wollte zu seinem ehemaligen Talmudlehrer, dem neuen Berliner Oberrabbiner Fränkel, um weiterzulernen. Das tat er so gründlich, aber auch so relativ unabhängig von jüdischer Orthodoxie, dass er dank seines überragenden Intellekts zum Philosophen der Aufklärung – der deutschen und jüdischen – werden konnte. Moses war das Vorbild für Lessings „Nathan der Weise“, der den rechthaberischen, alleinseligmachenden Ansprüchen der Religionen die Humanität der Toleranz entgegenhielt. Als er eines Tages in Königsberg vor einer Vorlesung Immanuel Kants inkognito den Hörsaal betrat, wurde er von den Studenten verhöhnt; als Kant kam, ihn erblickte, erkannte, umarmte und schließlich die Beiden Hand in Hand den Saal verließen, wurde größte Ehrerbietung bekundet. Die Szene steht beispielhaft für die gespaltene Existenz Moses Mendelssohns – verachtet als Jude, verehrt als Geistesmensch -, ein Balanceakt zwischen zwei Kulturen, der den Juden als – wie der Soziologe und Musikwissenschaftler Alphons Silbermann sagte – „dialektisches Stigma“ blieb. Hauchdünn war – nicht nur in Deutschland – die Schicht aufgeklärter, unvoreingenommener Menschen, die damit umgehen konnten. In Berlin, wo jüdische Gemeinden und Christen sich aufeinander zubewegt hatten, war das Klima für unbefangenen Umgang miteinander am günstigsten, wiewohl auch hier die Ressentiments jederzeit abrufbereit lauerten.

Abraham Mendelssohn, Sohn des Moses, Vater von Felix, eher ein Skeptiker und Vernunftethiker, war, wie seine hochkultivierte Frau Lea der Lessingschen Ansicht, dass „eine Kulturreligion so viel wert sei wie die andere“ und ließ seine beiden Söhne nicht nur nicht beschneiden, sondern alle vier Kinder – die in Hamburg geborenen Fanny, Felix, Rebecka und den in Berlin geborenen Paul – 1816 taufen (da war Felix sieben) und wurde selbst mit seiner Frau sechs Jahre später evangelisch – bei diesem Anlass fügte er dem Familiennachnamen den „Bartholdy“ hinzu. Dies alles geschah mit sehr viel seriöseren und skrupelhafteren Überlegungen, als es Heinrich Heines berühmte, zynische Verse suggerieren wollen:

„Der Abraham hatte mit Lea erzeugt
Ein Bübchen, Felix heißt er
Der brachte es weit im Christentum
Ist schon Kapellenmeister.“

Aber wie bei Heine war und blieb das Thema „Judentum“ in der Familie Mendelssohn stets virulent, kam – zu unterschiedlichen Gelegenheiten, mit unterschiedlicher Intensität und Akzentuierung – ans Tageslicht: Da gab es die beiden orthodoxen Großmütter, die man nicht verletzten wollte, dann die intelligente, begabte und nicht nur in diesem Punkt meist ätzend ironische Schwester Fanny, die berühmt-berüchtigte Tante Dorothea Schlegel, die nicht nur evangelisch und dann katholisch geworden, sondern auch erotisch voll emanzipiert war, Mutter Lea, die sich darüber aufregt, dass eine Schwägerin an ihrem Neugeborenen die „Kannibalenzeremonie“ der Beschneidung habe durchführen lassen und Vater Abraham, der Felix barsch ermahnte, das Bartholdy im Nachnamen nicht immer zu unterdrücken, denn „einen christlichen Mendelssohn kann es nicht geben.“ Felix selbst ging ziemlich „cool“ – wie man heute sagen würde – damit um, gelegentlich mit Selbstironie. Sein Freund, der Schauspieler Eduard Devrient, erinnerte sich, dass Felix, als sie beide unterwegs waren, um die Solisten für die Wiederaufführung der Matthäuspassion zu benachrichtigen, mitten auf dem Opernplatz ausrief: „…dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!“ Auch die Christen erinnerten sich seiner Herkunft – in der Regel mit unguten Absichten. Als er 1833 mit seiner Bewerbung um die Nachfolge Zelters als Leiter der Berliner Singakademie scheitert, sollen antisemitische Ressentiments eine Rolle gespielt haben – man will es nicht glauben, sind doch der schon berühmte Felix und Schwester Fanny seit 13 Jahren Mitglieder und die Eltern seit zwei Jahrzehnten Mäzene des Vereins. Aber hatte nicht auch Carl Friedrich Zelter damals, als er Goethe das junge Genie ankündigte, jene briefliche Äußerung getan, über deren definitiven Sinn man immer wieder ins Grübeln gerät: „Er ist zwar ein Judensohn, aber kein Jude.“

Die Möglichkeit, kein Jude zu sein, räumte die 1850, drei Jahre nach Mendelssohns Tod erschienene Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“ ihm erst gar nicht mehr ein. Ein „Karl Freigedank“ – alias Richard Wagner – hatte sie verfasst, und sie war so perfide, dass sich die Nationalsozialisten gut 80 Jahre später keine neuen Lügen einfallen lassen mussten, um Mendelssohn zu verunglimpfen, ihm „undeutsches Komponieren“ vorzuwerfen, ihm, der doch nach einer seiner zahlreichen Auslandsreisen erleichtert zurückgekehrt war mit den Worten: „Da merkte ich, dass ich ein Deutscher bin und in Deutschland wohnen wolle, solange ich es könne…“

Das Nachdenken über Mendelssohn war nach 1945 lange Zeit blockiert, zum Teil auch, weil die schrecklichen Musikwissenschaftler, die ihr Fähnchen so bereitwillig und ehrlos in den antisemitischen Wind gehängt hatten, bald wieder im Amt waren. Aber das ständige Gerede von „Glück“ und „Sorglosigkeit“, das sein Leben und Werk unaufhörlich begleitet habe, war und ist ja ohnehin ein Klischee. Und dieser Mann ist ja gar nicht – wie es ein anderes Klischee will – mit 38 Jahren als Götterliebling „sanft entschlafen“, sondern er starb gehetzt, überarbeitet, ausgebrannt, entsetzt und untröstlich über den Tod der geliebten Schwester Fanny. Natürlich hatte er Spannungen auszuhalten, die Zerreißproben der Identitätssuche, von der kaum je große Frauen und Männer jüdischer Herkunft verschont blieben. Ein Blick auf die von ihm komponierten oder dirigierten großen Vokalwerke gibt einen Eindruck davon: die christliche Matthäuspassion, die heidnisch-antichristliche „Erste Walpurgisnacht“ auf den Goethe-Text, „Paulus“, das Drama der Bekehrung des Juden Saulus, Händels Oratorium „Israel in Ägypten“ mit der Heldenrolle des Volkes Israel, der gänzlich alttestamentarische „Elias“ und endlich das Christus-Oratorium, das unvollendet blieb.

Natürlich komponierte Mendelssohn nicht so exzentrisch wie Schumann, Berlioz, Wagner oder Chopin, und man hat es ihm vorgehalten – aber er war auch nicht vom Wahnsinn bedroht, kein Exhibitionist, kein Monomane und kein fiebernder Neurastheniker. Dafür aber haben seine Kompositionen häufig eine Mischung aus federnder Eleganz, Anmut und Feuer, wie man sie in deutscher Musik allenfalls noch bei frühen Schubert-Sinfonien findet. Wie souverän entzieht er sich dem übergroßen Schatten seines Noch-Zeitgenossen Beethoven, nachdem er in den Streichquartetten op.12 und 13 noch an dessen späte Quartette angeknüpft hatte! Und wie wird er zum rücksichtslosen Expressionisten, als er in seinem letzten Quartett, dem in f-moll, seiner Trauer um die Schwester Ausdruck geben muss!

Wie sagte doch Schumann: „Er ist ein herrlicher Mensch….und das Zusammenkommen mit ihm gibt mir neuen Aufschwung und viel Genuss.“